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Dornentochter

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Diese Kurzgeschichte entstand im Rahmen der Schreibgruppe Extramundana in Kooperation mit Sharon E. Moos, Chris Gilles und Luzia Gmür.

Die Krähen hockten auf den Dächern der Stadt, welche mit Rosen und dämonischen Kreaturen aus Stein verziert waren, als würden sie auf etwas warten. Träger Nebel hing über den roten Zinnen des Schlosses. Die sonst so belebten Straßen des Königreiches waren wie ausgestorben.

Das ganze Königreich schien den Atem anzuhalten. Rötliches Licht drang durch den Nebel und der vierte Tag des Blutsonnenmonats nahm schleichend seinen Lauf. 

 

Ninphea stand vor der doppelflügeligen Tür zum Gemach ihres Vaters und konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal mit ihrem Zwillingsbruder Laveander und ihrer Mutter so ruhig in einem Raum gestanden und gewartet hatte. Die blauen Augen ihres Bruders starrten ein großes Loch neben sie in die Luft. Augen, welche in den letzten Wochen auf ihr gebrannt hatten. Ninphea musterte Laveander vorsichtig. Übelkeit kam ihr bei dem Gedanken auf, den grausamen Zwillingsbruder als Herrscher erleben zu müssen. Eine tote Katze hatte er ihr als Kind ins Bett gelegt, Lügen über sie verbreitet und ihr Schwarzrose in die Milch gemischt, um sie tagelang krank zu machen. 

“Ihr seid in meinem Bauch gediehen, wie zwei zarte Rosen und während du Liebe und Empathie zum Wachsen brauchtest, gedieh Laveander mit Hass und Wut”, hatte ihre Mutter ihr als Kind einmal gesagt, als sie beide die tote Krähe betrachteten, gestorben durch Laveanders Hand. Nun stand er da und Ninphea wusste es genau, er konnte es kaum erwarten König zu werden. Ein schmales Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, versunken in Gedanken.

Die Lippen ihrer Mutter bebten leicht, während ihre Augen nervös auf die Tür gerichtet waren, hinter der ihr Mann in seinem Sterbebett lag. Als sich diese öffnete, fuhren alle gleichzeitig auf. Priester Archibald erschien und nickte ihnen zu. Seine stahlgrauen Augen wirkten gefasst, als er die königlichen Familienmitglieder einzeln betrachtete. Eben hatte er dem König die letzte Salbung gegeben. 

Hinter ihrem Bruder trat Ninphea in das Zimmer. Kerzenwachs, Salbungsöl und etwas Säuerliches lag in der Luft. Der König starrte an die Decke, seine Augen waren tief in seinen Schädel eingefallen, man erkannte ihn kaum wieder. Er atmete keuchend und Ninphea spürte, dass er sich mit letzter Kraft am Leben festhielt. 

“Die Rosen…” Die raue Stimme des Königs durchschnitt die Stille. “Die Rosen werden über meinem Schlaf erblühen…”

Seine Stimme begann zu beben und als dem König Tränen über die ausgemergelten Wangen quollen, blieb Ninphea die Luft weg. Noch nie hatte sie ihren anmutigen, starken Vater so gesehen. Dem Tode ins Auge blickend.

“Weiße Rosen werden über meinem Schlaf erblühen und den nächsten Herrscher wählen.'' Der König stieß einen herzzerreißenden Schrei aus und Ninpheas’ Mutter fiel in sich zusammen und begann zitternd zu weinen. Ninphea blieb wie angewurzelt stehen. Was meinte ihr Vater? Sie sah die Angst in seinen fahlen Augen. Nicht die Angst vor dem Tod, sondern die Angst vor etwas anderem. 

Noch ehe Ninphea es sich versah, rannte sie aus dem Schlafgemach, stolperte über den Teppich, vorbei an ihrem Bruder, noch ehe ihr vor Angst und Trauer schwarz vor Augen wurde. 

Ein Echo der ruhigen Stimme des Priesters hallte durch den steinernen Gang. “König Prunus von Hohenstein ist tot!”

Als die Kirchenglocken laut vom Tod des Königs verkündeten, erhoben sich die Krähen und verschwanden im Nebel, welcher über den Dächern lauerte.

 

***

 

Priester Archibald stieß die hölzerne Flügeltür zur Kapelle auf. Sein schneller Atem hallte von den kahlen Steinwänden wider. Sein Herz hämmerte. Er war sich sicher, dass es bis zu den Hallen der Götter hörbar war.

Die Prophezeiung… ist es wirklich so weit?

Eine Schweissperle tropfte trotz der Kälte von seiner Schläfe und landete mit im Staub.

Jahre der Vorbereitung… Was, wenn ich mich irre?

Zielstrebig durchschritt Archibald die Kapelle und erreichte die reich verzierte Holztür, die sich hinter der Statue der Anatuya befand. Der vertraute Geruch von Staub und Büchern kam ihm entgegen, als er die Bibliothek betrat. Der Raum war bis zur hohen Kuppeldecke mit Büchern gefüllt. Werke und Epen aus allen Zeitaltern türmten sich in hölzernen Bücherregalen. Die engen Gänge erweckten den Eindruck von einem Labyrinth des Wissens. Ein Labyrinth, in dem man Gefahr lief, ohne Willenskraft und einen Plan, sich selbst zu verlieren. Doch Archibald kannte es wie den Inhalt seiner Robe. Wie in Trance trugen ihn seine Füße zu den Werken von Oleram und Pritsopheres. Ehrfürchtig streichelte er über den Buchrücken. Gerade als er den dicken, ledernen Einband herausziehen wollte, knarrte die Holztür hinter ihm. 

Archibald fuhr herum, als habe ihn jemand beim Schummeln ertappt. Er blickte in die grauen Augen von Theriem, dem Kirchenkustoden, einem seiner ältesten Freunde. 

“Was machst du hier, Archibald?”, flüsterte Theriem. Seine Stimme klang wie das Umblättern der Seiten in einem alten Buch. 

“Sie wurde ausgesprochen”. Die Worte sprudelten förmlich aus Archibald heraus.

Theriems Blick verdüsterte sich. “Bist du dir sicher?”

“Nicht ganz…aber Theriem…”, Archibald versuchte vergeblich, das Zittern in seiner Stimme zu kontrollieren. “Wenn es tatsächlich eintrifft…gerade jetzt…”

“Dann sind wir verloren”, beendete der Kustode seinen Satz. 

“Prinz Laveander ist der rechtmäßige Erbe, das weiss ich ja, aber dieser Junge wird das Reich in den Untergang stürzen, sobald die Rosen ihn wählen”, fügte Theriem hinzu.

Archibald nickte zögerlich, wollte sich nicht anmerken lassen, dass Theriem nur den ersten Teil der Prophezeiung kannte, doch die Zeit der Offenbarung war noch nicht gekommen. 

“Uns bleibt keine Wahl…”, antwortete er stattdessen halbherzig, um Theriem in seinem Glauben zu lassen.  

Endlich zog Archibald den ledernen Einband hervor und blätterte die staubigen Seiten durch. Seine Hände zitterten. War es in der Bibliothek noch kälter geworden als gewöhnlich?

Er verharrte. Eine einzelne Rose, von Dornen umrahmt, blickte ihn aus dem Buch heraus an.

Das Omen der Königsrosen.

Sinnbild für den Untergang des Reichs. Archibald schlug das Buch auf, und sofort blieb sein Blick bei einem Absatz hängen.

“...färben sich die weißen Rosen rot, so wird das Königreich ein Ende finden.”

Archibald lächelte. 

 

***

 

Ein stummes Gericht von Krähen saß auf den Zinnen, ein Spiegelbild der Menschenprozession, die unter ihnen stattfand. Schwarzgekleidete Menschen strömten von überall her in die Hauptstadt, um dem toten König die letzte Aufwartung zu machen. Zuvorderst waren die Musikanten, dann kamen Generäle in ihren roten Uniformen mit goldenen Abzeichen auf ihrer Brust. Der schwere Sarg aus Eiche wurde von acht Soldaten getragen. Die Flagge aus schwerem Stoff lag fein drapiert auf dem Sarg: ein von Dornen umwobenes Schwert auf rotem Grund. Die Königsfamilie lief direkt hinter dem Sarg. 

Ninphea war vor allem damit beschäftigt, ihre trauernde Mutter zu stützen, bis sie auf dem Friedhof eintrafen. Laveander folgte ihnen. Sein Blick ging ins Leere.

Der Friedhof der Burg Hohenstein war sehr alt. Man munkelte, er sei noch älter als die Burg selbst. Die Grabsteine waren von Flechten überzogen und vom Wind und Regen abgenutzt. Alle Vorfahren von Ninphea und Laveander wurden hier begraben. Nun würde ihr Vater sich zu ihnen gesellen. 

Bereits im Vorfeld war ein riesiges Loch ausgehoben worden, wo der Sarg eingelassen wurde. Bedienstete schaufelten die dunkle Erde ins Grab und deckten ihn zu. 

Archibald setzte sich zu seiner Predigt an: “Eure Hoheiten, liebe Bediensteten, liebe Angehörige und Trauergemeinde …”

“Da!”, rief ein kleiner Junge.

Alle sahen gespannt zum Grab. Etwas schien sich zu regen. Die Erde bewegte sich.

Ein erschrockenes Raunen ging durch die Menge.

Dann sahen sie es: eine kräuselnde grüne Ranke, die sich langsam aus dem Grab emporhob, danach schneeweiße Rosen, die begannen sich aufzutürmen und erblühten prachtvoll. 

“Die Prophezeiung”, flüsterte Archibald. “Es ist so weit.”

Es wurden immer mehr Rosen, sie verschlangen das königliche Grab in wenigen Wimpernschlägen.

 

Ninphea beobachtete gebannt, wie die Rosen wuchsen und sich ausbreiteten. Nicht lange, und das noch frische Grab ihres Vaters war unter einer Decke aus Dornen und samtenen, weißen Blüten verschwunden. Das Wunder, das sich hier vor ihren Augen ereignete, entlockte der Menge staunendes Raunen. Manche begannen, lauthals Anatuya zu preisen. Ihr Blick schweifte zu Archibald, und Ninphea fragte sich, was der Priester der gehörnten Göttin wohl davon halten mochte. Anders, als sie es erwartet hatte, stimmte er nicht in die Lobpreisung mit ein. Nein, sein Gesicht war aschfahl geworden. Seine Lippen formten Worte, die in den ekstatischen Rufen der Menge untergingen. 

Ninphea trat näher an ihn heran. 

“Die Prophezeiung”, murmelte er. Nacktes Entsetzen ließ seine Stimme brüchig werden, als wäre er plötzlich um zwei Jahrzehnte gealtert. “Unwürdig… der Erbe ist unwürdig… Anatuya steh uns bei!” 

Der Erbe… unwürdig?

Laveander… 

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. 

Ihr Bruder war schon immer ein arrogantes Miststück gewesen. Ehrgeizig, auch wenn er sich im Hinblick auf die Nachfolge eigentlich nie hätte sorgen müssen. Er war schließlich der Erstgeborene. 

“Was soll das?”, hörte sie Laveander rufen. Er hatte eine Hand auf den Griff seines Zeremonienschwerts gelegt, während er den Rosenwuchs beäugte. Inzwischen hatte die wuchernde Masse die angrenzenden Gräber erreicht. “Priester! Ist dies das Werk deiner Göttin?” 

“Nein”, hauchte der dürre Mann. Der Blick seiner geweiteten Augen fiel auf Rose.

Nicht panisch. 

Ekstatisch. 

Und dann spürte sie es. Ranken, die sich zu einem Kranz flochten, einer dornenbestückten Krone. Die scharfen Spitzen bohrten sich in ihre Stirn, lockten kleine Blutstropfen hervor.

Die Rosen… sie haben mich erwählt. 

“Nein!” Mit wutverzerrtem Gesicht stürmte Laveander zu seiner Schwester und begann, an der Dornenkrone zu zerren. “Ich bin der rechtmäßige Erbe! Ich!”

Rose versuchte verzweifelt, ihren Bruder wegzustoßen. “Lass das!” Dornen rissen die Haut auf und Blut tropften auf die Rosen, sodass sie sich rot färbten.

Doch es war zu spät. Laveander hatte die Krone bereits an sich genommen und setzte sie sich auf. Ihr Zwillingsbruder blickte mit siegreichem Lächeln in die Menge, die wie erstarrt vor dem Königsgrab stand. 

“Kniet vor eurem neuen König!”, erbebte seine Stimme über den alten Friedhof. Angsterfüllt blickte Ninphea in die Augen ihres Bruders. Die Augen eines Tyrannen. Plötzlich veränderte sich seine siegreiche Miene. Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht. Blut tropfte von seiner Stirn auf sein seidenes Hemd. Ninphea erkannte, wie sich die Dornenkrone auf Laveanders Kopf regte. Immer deutlicher sprossen weitere Dornen aus ihr hinaus und wucherten über das Gesicht des Prinzen. Die Dornen wirkten wie die Reißzähne einer dämonischen Kreatur und umhüllten gierig Laveanders ganzen Körper. Sein Schrei klang leise, gedämpft, als die Dornen in seinen Mund eindrangen. Die Menge schrie entsetzt auf, als sich die Dornen in seine Haut bohrten.  Die Rosenblätter unter seinen Füssen erblühten in glänzendem Rot.

Die schrille Stimme des Priesters schnitt durch den Lärm der Menge, als er neben Laveander trat. Seine Hand schnellte vor und ergriff das Schwert des Thronerben, zog es aus der goldenen Scheide und hielt es ins rötliche Licht der nebelverhangenen Blutsonne. Doch statt den Prinzen von den Dornen zu befreien, welche sich immer enger um Laveanders Körper schlangen, drehte Archibald diesem Schauspiel den Rücken zu. Mit einem letzten kläglichen Laut, vielleicht ein Hilfeschrei, versank der Prinz im Meer aus Dornen und Rosen, bis er vollständig verschlungen war. 

“Die Rosen werden über seinem Schlaf erblühen, das Blut der Königskinder wird sie rot färben, bevor sie die ganze Welt verschlingen!, verzerrte  Archibald die Prophezeiung. Ein grässliches Gelächter brach aus ihm hervor. 

Ninphea verspürte den Drang davonzurennen, diese ganze Szenerie hinter sich zu lassen. Doch sie blieb wie angewurzelt stehen, als hätten sich die Dornen auch um sie geschlagen. Kalter Stahl an ihrer Kehle riss sie aus der Schockstarre.

“Weisse Rosen, vom Blute der Königskinder befleckt. Eine Welt umhüllt von Dornen. Für dich, Anatuya, führe meine Hand”, dröhnte die Stimme des Priesters an ihrem Ohr. Sie spürte seinen Atem, dann warmes Blut, das über ihre Kehle floss und ihr Kleid benetzte.

Bevor Ninphea sich für immer verlor, hörte sie die panischen Schreie der Menge. Sie lächelte. Die Welt, von Dornen umhüllt, der Gedanke bereitete ihr Genugtuung. Ein fairer Preis für ihr Leiden. Eine Welle aus Dornen und blutigen Rosen brach über die flüchtenden Menschen nieder und verschlang sie unter einem Meer aus Ranken. 

 

Auf dem alten Friedhof kehrte Stille ein. Die Krähen setzten sich auf den Dornen nieder, als hätten sie nur darauf gewartet. Das rötliche Licht der Blutsonne hing tief über dem Dornenmeer und schleichend fand der Tag ein Ende.

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