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Das Feuer der Entschlossenheit

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Schweigend stand das Volk mit bangem Warten,

Wollte nicht nach Hause sich zerstreuen;

Doch das Mägdlein stieg zum heiligen Hügel.

 

«Verräter!»

«Möge der ewige Schatten ihn holen!»

Die zornigen Rufe und markerschütternden Flüche zuckten wie Blitze über dem heiligen Hügel, als der Gefangene vor die Menge gezogen wurde. Seine blutenden Füsse hinterliessen Abdrücke auf dem Holzpodest, das auf der Hügelkuppe stand. Er trug zerfetzte Kleidung, gezeichnet von wochenlanger Gefangenschaft. Nur der Sack über seinen Kopf verbarg die tiefen Augenhöhlen und das eingefallene Gesicht. Das Galgenseil baumelte über ihm im Wind. Malena hatte ihre grösste Mühe, den Blick davon loszureissen. Hypnotisiert von diesem Pendel, verschwamm die Szenerie vor ihren Augen. Einen Moment lang war sie fernab von allem Zorn und aller Anspannung, zurück auf ihrer Farm.

Die laute Stimme des Grossherzogs, scharf wie eine frisch geschliffene Klinge, schnitt durch den Lärm. Malenas Herz raste und sprang ihr beinahe aus der Brust. Bald war es so weit.

«Wir haben uns heute hier versammelt, um diesen Mann für den Verrat an unserer Stadt hinzurichten.»

Ein Raunen ging durch die Menge und Malena rollte eine Träne über die Wange, als der Grossherzog den Sack vom Kopf ihres Onkels riss. Sein Gesicht wirkte um Jahre gealtert. Doch in seinen Augen erkannte sie keine Angst. In ihnen brannte das Feuer der Entschlossenheit. Dieser Blick erfüllte sie mit neuer Kraft. Es musste getan werden.

Wie in Zeitlupe beobachtete Malena, wie der Grossherzog ihrem Onkel das Seil um den Hals legte. Die Anspannung der Menge wuchs zu einem stetigen Zittern an, wie ein aufgescheuchtes Bienennest. Sie schrien nach Gerechtigkeit und forderten ein Menschenleben, als stünde es ihnen zu. Malena bemitleidete diese armen Menschen, wie sie ohne einen eigenen Gedanken blind ihrem Führer folgten.

Ihr Onkel, den Henkersknoten nun eng um den Hals geschnürt, starrte entschlossen in die Menge. Dann stiess er einen Schrei aus, der vom heiligen Hügel bis hinunter in die Stadt widerhallte. Sein Körper fing Feuer. Eine Stichflamme hüllte ihn von Kopf bis Fuss ein und dehnte sich dann unter tosendem Krachen auf dem gesamten Galgenpodest aus. Binnen Sekunden brannte die Hügelkuppe lichterloh. Ihr Onkel, der heilige Hain und der Grossherzog, verschlungen im Feuer der Entschlossenheit.

Die Menge um Malena floh angsterfüllt vor den Flammen, doch das Mädchen stand reglos inmitten der Panik. Über ihre Wangen kullerten verschiedenartige Tränen.

Tränen der Trauer, um ihren Onkel. Tränen der Freude, um das Ende der Unterdrückung.

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